HANAU.

Es ist ein Jahr her. Und je näher der 19. Februar rückt, desto größer wurde der Schmerz in den letzten Tagen. Meine Gedanken sind bei den neun Menschen, die ihren Familien, Freunden und uns weggerissen wurden, weil sie von der Willkür des Bösen und gleichzeitig vom gezielten Hass des Täters auf Menschen mit nicht-deutscher Herkunft, die einer bestimmten soziokulturellen Welt angehören, getroffen wurden. Ich denke an die Angehörigen, wie sie mit diesem Verlust leben und mit diesem Schmerz weiterleben müssen. An die Geschwister, an ihre Partner, an ihre Eltern, an ihre Kinder und an ihre Freunde, und ich frage mich, ob sie dieses Land noch ihre Heimat nennen können, das ihnen ihren geliebten Menschen weggenommen hat.
Hanau erinnert auch unmissverständlich an den eigenen Schmerz, an das eigene Leid, das man erleben musste und muss, nicht nur weil man dunkle Haare und dunkle Augen hat, sondern einer Welt angehört, die nicht nur abgelehnt, sondern abgewertet wird.
Rassismus und Diskriminierung ist Alltag im Leben von Menschen mit Migrationsgeschichte, je sichtbarer, desto mehr, je weniger gebildet und je niedriger der „soziale Status“, desto eher, denn dann ist man am meisten verwundbar in dieser Leistungsgesellschaft.
Auch ich war davon betroffen und bin es heute noch immer, immer dann, wenn ich es am wenigstens erwarte. Es kam aber der Zeitpunkt, an dem ich mich entschied, kein Opfer mehr zu sein und begann, resilient zu werden. Zu akzeptieren, dass es normal ist, dass Menschen Ressentiments haben können, oder Vorurteile und dass es zu Reibungen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen kommen kann. Dass wir uns streiten müssen, bevor wir zusammenwachsen. Und ich habe begonnen, mich auf das zu fokussieren, was nicht tolerierbar ist: Gewalt in Form der Überlegenheit. Und dann musste ich feststellen, dass das nicht nur rechts, sondern auch links stattfindet. Dass auch diejenigen, die sich nach außen hin als vorurteilsfrei zeigen, sich überlegen fühlen. Dass sie weiterhin ihre Macht ausüben. Und dass Ausgrenzung nicht nur von den „Deutschen“ kommt, sondern auch von Menschen mit Migrationsgeschichte.
Im Diskurs, seit ich schreibe, wehre ich mich dagegen, den Begriff Rassismus inflationär zu verwenden, und plädiere, zu akzeptieren, dass es Teil des Prozesses des Zusammenwachsens ist, dass wir von Vorurteilen betroffen sind, dass die Frage „Woher kommst Du?“ auch harmlos sein kann, dass es auch Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund geben kann, dass es nicht richtig ist, Deutsche mit nicht-fremden Wurzeln als „Almans“ abzuwerten und zu beleidigen, dass es auch Rassismus gegen „Weiße“ geben kann, und dass auch Linke sowie Linksliberale sich zwar als Antirassisten aufspielen, aber und um ihren eigenen kulturellen Rassismus zu verstecken.
Unsere Waffe ist unsere Resilienz
Resilienz bedeutet für mich nicht nur, dass ich nicht bei allem „Rassismus“ schreie, was nach Ablehnung, negativen Gefühlen und einer gegensätzlichen politischen Haltung aussieht, sondern ich möchte resilient genug sein, um mit Rechten zu reden. Denn wenn wir sie nicht überzeugen können, dann werden es die Rassisten schaffen. Wir geben auf, bevor wir zu kämpfen angefangen haben.
Unsere Glaubwürdigkeit ist in Gefahr
Man glaubt uns nicht mehr. Wenn jeder zwischenmenschliche Konflikt, wenn Vorurteile und negative Haltungen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund als rassistisch etikettiert werden, dann beginnen wir das, was in Hanau passiert ist und worunter Menschen täglich leiden, zu relativieren. Um Rassimus bekämpfen zu können, müssen wir genau wissen, was Rassismus ist. Und es ist mehr als nur eine negative Haltung gegenüber einer Gruppe, es setzt Überlegenheit einer Gruppe voraus, die mit einer Abwertung einer anderen Gruppe einhergeht.
Mir wurde nicht geglaubt, weder von meinen Lehrern, noch von meinem Nachbarn, oder dem Türsteher vor einer Konzerthalle oder auch von Journalistenkollegen und Chefredakteuren – wenn man sie mit ihrem biologischen oder kulturellen Rassismus konfrontiert, dann schweigen sie oder sie werden noch gewalttätiger. Und sie lassen uns verstummen, sie lassen uns mit unserer Wut alleine zurück. Diese Wut möchte ich nicht länger in mir tragen. Ich möchte sie abgeben können, ich möchte, dass sich Menschen einmischen, dass sie sich einsetzen. Immer dann, wenn sie sehen, dass ein anderer Mensch aufgrund seiner Herkunft abgewertet wird.
Deshalb wehre ich mich dagegen, dass der Begriff „Alman“ als Abwertung legitim sein soll, deshalb mische ich mich ein, wenn es heißt, es gebe keinen Rassismus gegen „Weiße“. Dann frage ich mich auch: Habt ihr wirklich Rassismus erlebt? Erniedrigung? Tag für Tag? Dass man euch gesagt und gezeigt hat, dass ihr es nicht wert seid, ihrer Welt anzugehören, weil ihr dunkle Haare und Augen habt und mehr noch, weil eure Eltern keine Anwälte, sondern Arbeiter sind?
Wieso diffamiert ihr Menschen aufgrund ihrer „weißen, biodeutschen Herkunft“ und behauptet, dass sei politisch konnotiert, statt ihre politischen Argumente auseinanderzunehmen und ihre Haltung zu gesellschaftlichen Themen zu kritisieren? Wieso dreht ihr den Spieß um? Ich wollte nie über ihnen stehen, sondern neben ihnen. Ich wollte nie besonders, sondern gleich behandelt werden.
Niemals aufgeben
Natürlich, um resilient zu werden, muss man uns auch glauben, dass das, was wir erleben echt ist. Aber es ist heute für mich schwieriger, Menschen im links-liberalen Spektrum davon zu überzeugen, als im rechten. Das war es eigentlich schon immer so. Bereits mein Lehrer, politisch links und Grün-Wähler, konnte sich nicht vorstellen, dass seine Schülerinnen und Schüler ausländerfeindlich und rassistisch sind. Nein, sagte er mir, mit dir stimmt etwas stimmt.
Es gibt aber Menschen, die uns glauben, und das sind nicht die, die uns wie Objekte für ihre politischen Ideologien benutzen, die über uns twittern, sondern die, die mit uns auf Augenhöhe begegnen und mit uns reden.
Denn die wahren Rassisten fragen nicht. Rassisten entschuldigen sich auch nicht. Sie interessiert es nicht, woher man herkommt, was man beruflich macht, wie gut Deutsch man spricht.
Sie üben Gewalt aus, sie ignorieren dich, sie mustern dich, sie lachen dich aus. Und all das erlebt man überall. Ja, Rassismus ist überall, und am meisten dort, wo man es am wenigsten vermutet. Und in Hanau hat man es nicht vermutet.
In Gedenken an
Gökhan Gültekin
Sedat Gürbüz
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Hamza Kurtović
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Ferhat Unvar
Kaloyan Velkov
Gabriele Rathjen